Medienrhetorik

Digitale Disinhibition

Funktion und Funktionsweisen digitaler Selbstenthemmung

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Digitale Disinhibition bezeichnet eine durch den Online-Kontext hervorgerufene Art der Selbstenthemmung. Dabei spielen die unterschiedlichsten Faktoren wie partielle Anonymität, Asynchronität und Autorität eine Rolle, die beim Online Marketing in verschiedenen Strategien berücksichtigt werden können.

September 25, 2018

Written by Carina D. Bukenberger

Rhetorik M.A.
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Aus Gründen einer verbesserten Lesbarkeit verwenden wir in diesem Artikel das generische Maskulinum. Dies beinhaltet keinerlei Wertung und schließt sämtliche Geschlechteridentitäten mit ein.

1. Du bist nicht du, wenn du online bist.

Wer kennt es nicht: Man knüpft einen neuen Online-Kontakt, schreibt ein oder zwei Tage und stellt plötzlich erschrocken fest, dass die Gesprächsthemen längst intimere Formen angenommen haben als am zweiten Weihnachtsfeiertag an Omas Kaffeetisch. Weitere Tage der digitalen Kommunikation – sei diese freundschaftlicher, beruflicher oder romantischer Natur – verstreichen und es kommt schließlich zum ersten situativen (analogen) Aufeinandertreffen. Steht man sich dann aber gegenüber fällt es plötzlich schwer, an vergangene Gespräche anzuknüpfen oder gar auf ein höheres Intimitätslevel zu eskalieren. Vielleicht ist sogar der ein oder andere enttäuscht, von dem Menschen der nun tatsächlich vor ihm steht. Aber woher kommt das?

2. Was ist digitale Disinhibition?

In der Rhetorik nennen wir das Phänomen der Selbstenthüllung nach Suler den Online Disinhibition Effect. Da die Begrifflichkeit Disinhibition (von lat. inhibere – hemmen) bereits so stark mit der Thematik digitaler Selbstenthemmung verbunden ist, wird im Folgenden auf eine Übersetzung verzichtet.

Online Disinhibition bezeichnet also im Allgemeinen die digitale Enthemmung und meint damit weniger das Offenlegen einer eigentlichen und „wahren“ Persönlichkeit, sondern eher eine neuartige Selbstkonzeption im digitalen Kontext. Entsprechend kann und sollte diese Neukonzeption strategisch vorbereitet werden, sofern seitens der Oratorinstanz gewisse Ziele im Kommunikationsprozess verfolgt werden. Dabei gilt es einige Faktoren zu berücksichtigen, die in unterschiedlichstem Ausmaß an einer Disinhibition beteiligt sein können. Diese Disinibitionsfaktoren werden wir im Folgenden näher betrachten.

3. Die sechs wichtigsten Faktoren der digitalen Disinhibition

Die Digitalisierung hat unser Leben beschleunigt und damit auch die zwischenmenschliche Beziehungsentwicklung. Das liegt vorallem daran, dass in der digitalen Kommunikation Sinneskanäle für auditive, olfaktorische, visuelle und taktile Wahrnehmungen nur eingeschränkt oder gar nicht genutzt werden können. Da weniger Kanäle zur Verfügung stehen, gewinnt der Kommunikator indirekt den Eindruck, mehr Kontrolle über die entsprechende Kommunikationssituation zu haben, als er eigentlich hat. Hier die sechs bedeutendsten Faktoren des digitalen Enthemmungseffekts:

1. Dissoziative Anonymität

Online kann die eigene Identität in Gänze oder in Teilen versteckt werden. Der Aufbau zweiter oder dritter Identitäten ist im digitalen Raum deutlich einfacher, was eine Dissoziierung der eigenen Persönlichkeit mit den eigenen digitalen Sprechhandlungen befeuert.
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2. Unsichtbarkeit

Auch wenn die Identitäten der Kollokutoren bekannt sind, hilft uns die „Unsichtbarkeit“ offen zu kommunizieren: Wir müssen unser Gegenüber nicht bei der Rezeption unserer Nachricht beobachten, was eine entlastende Funktion haben kann. (Vgl. Taktvolle Blindheit, Cialdini)

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3. Solipsistische Introjektion

Eigene Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse formen das Bild des Gegenübers in unserem Kopf entscheidend mit. Hinzu kommt: Wir lesen die Chatnachrichten in unserem Kopf quasi mit unserer eigenen Stimme, wodurch wir uns gelegentlich stärker mit Inhalten identifizieren, als wir eigentlich sollten.
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4. Asynchronität

Durch das Fehlen einer direkten zeitlichen Komponente fällt auch der Faktor des Interaktionsdrucks weg, den wir aus der Situativik kennen. Gleichzeitig muss der Orator nicht direkt mit einer Reaktion der Rezipierenden rechnen, was die Hemmungen sinken lässt („putting it out there and running away“).

5. Dissoziierende Imagination

Der Faktor der dissoziierenden Imagination besaß um die Jahrhundertwende noch stärkere Wirkung, als mit dem Ausschalten des PC’s auch die zweite digitale Welt „ausgeschalten“ werden konnte. Heute funktioniert Immersion respektive Transportation durch Imagination bestenfalls noch durch hochwertige Grafiken.

6. Minimierung von Autoritäten

Situativ kommunizieren Autoritätsfiguren ihren Status in aller Regel nonverbal. Diese Codes fallen in der digitalen Welt allerdings weg, wodurch Hierarchien beinahe aufgehoben werden. Der Zugang zur Oratorrolle wird deutlich erleichtert und steht online jedem Nutzer in selbem Maße zur Verfügung.

4. Digitale Disinhibition im Online Marketing

Die digitale Disinhibition geschieht meist unbewusst und bleibt (bestenfalls) folgenlos. Wie bereits festgestellt wurde, ereignet sich digitale Disinhibition am häufigsten im zwischenmenschlichen resp. kommunikativen Kontakt. Doch greift die Funktionsweise des Disinhibitions-Prinzips bereits bei Online Recherchen – ganz ohne kommunikatives Setting -, was anhand von Google Statistiken sichtbar gemacht werden konnte: Obwohl im Internet jeder einzelne Klick, jede einzelne Suchanfrage also letztendlich jede einzelne Handlung digitale Datenspuren produziert und dauerhaft hinterlässt, beschäftigen sich viele Menschen online eher mit Themen, um die sie in der analogen Welt einen weiten Bogen geschlagen hätten. Nicht aus mangelndem Interesse, sondern aus Sorge, was andere Menschen von diesem Interesse halten könnten. So ist beispielsweise der Konsum pornografischer Inhalte um ein Vielfaches angestiegen, seitdem Menschen nicht mehr beim Kauf einer entsprechenden Zeitschrift im Kiosk beobachtet werden können.

Die digitale Disinhibition begünstigt also das Entstehen neuer Konsumformen, die sich in der analogen Welt weiterhin schwer getan hätten. Entsprechend gilt es die Marketingstrategien in den betroffenen Sektoren an diese neuen Rezeptionsformen und an die neuen Konsumbedürfnisse anzupassen. Zu den entsprechenden Sektoren gehören neben der Pornografie-Branche auch Bereiche wie die assistierte Reproduktion, plastische Chirurgie oder die kurzfristige Partnersuche für hedonistische Zwecke. Selbst wenn sich Seitenbesucher nur zum entsprechenden Sektor informieren wollen, so profitiert doch jeder Anbieter mit Content Marketing Strategie von den fleißigen Lesern, die sich mit diesen vermeintlich pikanten Themen auseinandersetzen möchten.

5. Fazit

Digitale Disinhibition bedeutet, dass das (sprachliche) Handeln von Internetnutzern (in Chatrooms, auf Socal Media Portalen, Online Dating Portalen, bei der Online Recherche und in Online Shops) weniger eingeschränkt, bewusst gefiltert oder zurückgehalten wird, als in der analogen Situativik. Menschen neigen also bewiesenermaßen dazu, in der digitalen Welt mehr Informationen preiszugeben, als es die Situation eigentlich erfordert hätte: Menschen wagen sich in der Online Recherche an Themen heran, die sie zuvor nicht mit ihrem (für die analoge Situativik entworfenen) Image vereinbaren konnten und lassen sich so letztendlich zu Kaufentscheidungen bewegen, die sie offline nie getätigt hätten.

Im Zuge der digitalen Selbstenthemmung neigen Menschen auch im Bereich Online Dating vermehrt zu übertrieben generösen Gesten. Dabei wird nicht selten bereits nach kürzester Zeit echtes Geld auf ein fremdes Konto überwiesen und noch häufiger werden unbegründete Vertrauensvorsprünge offeriert, die den Betroffenen im nachhinein durchaus gefährlich werden können. Denn auch die Geschäftsmodelle im Bereich des Love Scamming bzw. Romance Scamming basieren auf dem Prinzip der digitalen Disinhibition: Love Scammer verlassen sich auf die partielle Anonymität im Internet, welche nicht nur ihnen selbst, sondern auch ihrem auserwählten Opfer im entsprechenden Kontext ein falsches Gefühl von Sicherheit vermittelt.

6. Quellen und Literaturempfehlungen

Gackenbach, Jayne: Psychology and the internet: intrapersonal, interperonal and transpersonal implications. Elsevier Science, 2007.

Joinson, Adam: Self-esteem, interpersonal risk, and preference for e-mail to face-to-face communication. Cyberpsychology & Behavior. 7 (4): 472–478. 2004.

Schmid, Julia: Internet-Rhetorik: Chancen und Widerstände des Orators auf der digitalen Agora. Berlin, 2007.

Suler, John: The online disinhibition effect. Cyberpsychology and Behavior, 7, 2004.

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