Crossmediale Erzählsysteme

Vom ersten Buch Mose bis Game of Thrones

April 2019      |    Medienrhetorik

Quellen und Literaturempfehlungen am Ende der Seite.

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Aus Gründen einer verbesserten Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet. Dies beinhaltet keinerlei Wertung und schließt sämtliche Geschlechteridentitäten mit ein.

1. Vorwort

D ie Schlagworte „Storytelling“ und „Content Marketing“ sind in aller Munde. Doch was wollen uns die selbsternannten Marketingexperten damit überhaupt sagen? Wer erzählt hier was, und wer soll sich dafür interessieren?

Im Bereich des Social Media Marketings wird das sogenannte multimediale Storytelling gerne als Revolution des Marketings im Allgemeinen betrachtet, ja, als erzählerische Form der Zukunft: Es geht darum, die Geschichte des eigenen Unternehmens auf unterschiedlichen Plattformen und mithilfe der unterschiedlichsten Medien erlebbar zu machen. Dafür können Videoclips, Fotos, Texte und Grafiken genutzt werden, die bestenfalls sogar dazu einladen, von den Rezipierenden selbst erweitert zu werden.

Doch sind diese ‚Marketing-Gurus‘ eben auch sehr gute Verkäufer des sprichwörtlich alten Weins in neuen Schläuchen: Blicken wir beispielsweise auf die antike griechische Mythologie, fällt auf, dass bereits 2000 v. Chr. Geschichten mithilfe diverser Medien verbreitet wurden. Nur dass die <Medien> der Wahl damals eben noch Bildhauerei, Architektur, Dramen und Epen waren. Aufgrund der kaum verbreiteten Lesekompetenz war auch für die Bibel eine multimediale Aufbereitung besonders wichtig: Sie fand vor allem Verbreitung durch mündliche Präsentation, wie Predigten und Passionsspiele oder aber Bildkodes, wie Altarbilder und Kirchenfenster. Dabei gipfelte die Erlebbarkeit biblischer Geschichten damals wie heute im interaktiven Phänomen des Kreuzweges, den Pilger auf sich nahmen und nehmen, um den Weg Christi besser nachvollziehen zu können. 

Man zielt also auf eine Verbreitung der eigenen Inhalte durch Interaktivität und Infotainment: Die Kundschaft wird nicht – wie im klassischen Marketing – allein über die Vorteile eines Produkts unterrichtet, sondern soll den gesamten Kontakt mit einem Narrativ als so unterhaltsam erleben, dass sie selbst auf die Suche nach weiteren Informationen geht. Diese Suche ist der Beginn einer Reise durch die unterschiedlichsten Medien und Plattformen. Wie es nun als Oratorinstanz gelingen kann, ein derartiges Interesse zu generieren, wird im Folgenden erläutert.

Ein <Narrativ> (lat. narrare – erzählen, auch gr. diḗgesis) ist ein erzählendes Element und eine Form der Darstellung. 

Die Literaturwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan prägte den Diskurs um multimediale Narrative entscheidend mit. Sie bezeichnete das Erzählen der selben Geschichte auf mehreren Medien als transmediales Narrieren. Das lateinische Präfix „trans-“ bedeutet hier ein Durchdringen verschiedener Medien bzw. das Übertragen des Narrativs auf verschiedene Medien. 

Medienwissenschaftler Henry Jenkins bezeichnete das Phänomen des transmedialen bzw. konvergierenden Erzählens als „Fluss von Inhalt durch mannigfaltige Medienplattformen“ (Jenkins, 2006). Dieser Fluss war ursprünglich notwendig, wenn eine Geschichte so umfangreich ist, dass sie von einem einzelnen Medium nicht bewältigt werden kann. Inzwischen wurde jedoch erkannt, dass selbst kleinere Narrative durch Multimedialität an Qualität und immersiver Wirkung gewinnen. 

Das Narrativ galt ursprünglich nicht als eigenständige Textsorte, sondern als häufiges Element komplexer Textzusammenhänge. Aphthonios definierte sechs superstrukturale Merkmale von Narrativen: Aktor, Aktion, Aktionszeit auf der Zeitachse, Aktionsort, Aktionsmodus und Aktionsursache.

2. Rhetorische BegriffsDefinition

In der traditionellen Rhetorik wird die narratio als „Mitteilung eines als Handlungsablauf fassbaren Geschehens“ (Knape, 2003) definiert bzw. nach Cicero et al. als Darlegung (expositio) geschehener oder gleichwie geschehener Dinge. Sie unterscheidet sich superstruktural von anderen rhetorischen Textsorten, da sie nicht beschreibt oder argumentiert, sondern erzählt. Die narratio wird als zweites Redesegment nach dem exordium (Einleitung) und vor der argumentatio (Argumentation) in die Rede eingebettet. An dieser Stelle gilt es das in der folgenden argumentatio zu verhandelnde Geschehen für die Rezipierenden nochmals zu vergegenwärtigen. Die narratio legt also den Grundstein der Argumentation, indem sie Vergangenes klar und glaubwürdig darlegt. 

Seit der <Rhetorik an Alexander> (4. Jh.v.Chr.) spricht man von drei Idealeigenschaften eines Narrativs: Kürze, Klarheit bzw. Deutlichkeit und Glaubwürdigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit. Cicero ergänzte die Eingängigkeit als wünschenswerte Eigenschaft und unterschied zwei Typen der fiktiven Erzählung: Die Personenerzählung (eine Figurendarstellung) und die Negotialerzählung, die ein Ereignis oder eine Tat erzählerisch darstellt. Sie kann in drei Gattungen realisiert werden: fabula (weder wahr noch wahrscheinlich), historia (wahr, aber lange her) und argumentum (unwahr, aber möglich).

Gérard Genette unterscheidet die drei narratologisch-analytischen Ebenen récit (textliche Oberflächenstruktur), histoire (Handlungstiefenstruktur) und narration (Performanzebene).

Aristoteles erkannte bereits, dass die gerichtliche Fallnarration wenig mit dem Erzählen in feierlichem oder beratendem Rahmen gemein hat. Außerhalb des Gerichtssaals treten narrative Elemente häufig in kleineren Segmenten auf, die allein der mimetischen Darstellung von Vergangenem dienen. In diesem Fall unterliegt das Erzählen keinen rhetorischen Kunstregeln.

Die an Roland Barthes angelehnte Frage nach Leben oder Tod des Autors erübrigt sich im rhetorischen Setting: Wir gehen bei einer Erzählung zunächst immer von einem oratorzentrierten, persuasiven, prämedialen Setting aus. Damit ist der Autor die selbe Person wie der Orator, bis zum Beweis des Gegenteils.

 

3. Die Narrative Basis

Um die Zauberkraft des multimedialen Storytellings erfolgreich zu nutzen, müssen wir uns zunächst für eine Strategie entscheiden.

1. Der Schneeball-Effekt: Die Geschichte als Basis.

Um den Schneeball-Effekt nutzen zu können, benötigen wir eine starke Geschichte als Basis: Ein zentraler Inhalt, eine feste Storyworld dient als Ausgangspunkt für die Erweiterung auf andere Medien. So beispielsweise bei Herr der Ringe: Alles begann mit dem Roman von J. R. R. Tolkien. Ein Text, ein Autor. Dieser Ur-Text wurde im Laufe der Zeit so populär, dass ihm ein eigener kultureller Wert zugeschrieben wurde und Menschen begannen, selbst transmediale Adaptionen hervorzubringen. Zunächst entwickelten sich zahlreiche Fan-Fiction-Texte, die mögliche Vorgeschichten und Fortsetzungen zu Tolkiens Ur-Text entwarfen. Es folgten professionelle Erweiterungen in Form von Filmen und Videospielen. In jedem Fall gilt jedoch Tolkiens Ur-Text als gemeinsamer Referent und fungiert als Basis der sich überlappenden Storyworlds.

2. Das geplante narrative Imperium

Anders als beim Schneeball-Effekt, wird hier von Beginn an das Ziel der Transmedialität verfolgt. Entsprechend wird hier keine Geschichte konzipiert, sondern ein ganzheitliches Projekt, das sich in Folge über diverse Medien erstrecken soll. Meist steht hier anstatt eines einzelnen Autors ein ganzes Oratorkollektiv hinter der Erstellung des Narrativs. So beispielsweise bei Matrix: Die Geschwister Wachowski planten das narrative Imperium von Anfang an als ein mehrere Medien umfassendes Konzept. Der Film sollte lediglich als Einstiegsmedium dienen, da er sehr gut als alleinstehendes Werk rezipiert werden kann. Im Film werden zahlreiche Hinweise eingestreut, die nur dann verstanden werden können, wenn das Narrativ auch auf anderen Medien, wie dem Videospiel oder den Comics, rezipiert wird. Hier könnte Jenkins Gedanke zutreffen, wonach manche Narrative zu umfangreich sind, um von einem einzigen Medium bewältigt werden zu können.

Bei narrativen Imperien wird die Storyworld mit jedem Medium erweitert. Ryan nennt hier als Beispiel das SWR-Projekt „Alpha 0.7 – Der Feind in dir“ von 2010. Dabei handelte es sich um eines der ersten crossmedial angelegten Projekte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dieses fand in TV, Hörfunk und Internet Verbreitung unter dem Slogan „Keine Serie. Ein Universum.“ Die Geschichte des Projekts wurde größtenteils im TV erzählt, während Radio und Internet dazu genutzt wurden, ergänzende Dokumente bereitzustellen bzw. Informationen zu kommunizieren, die im Medium „TV“ nur schwer wiedergegeben werden konnten.

Entscheidender Unterschied zum Schneeball-System nun ist der ontologische Status eben dieser Dokumente, also die Frage nach ihrer Existenz: Bei Alpha 0.7 existieren im Film natürlich auch diese Dokumente, wie beispielsweise der persönliche Blog einer handelnden Figur, die auch von uns im realen Leben unter der entsprechenden Domain abgerufen werden können (inzwischen vom SWR leider offline genommen). Dagegen existiert innerhalb des Films „Harry Potter und der Stein der Weisen“ kein Videospiel mit diesem Namen und auch im Videospiel existiert kein Film über das Leben des jungen Zauberers. Das liegt darin begründet, dass die Medien im Schneeball-System allein dazu dienen, die erzählte Handlung wiederzugeben, während Medien in crossmedialen Projekten unter anderem sich selbst als Medien präsentieren.

4. Strategische Überlegungen

Bevor wir mit der eigentlichen Konzeption eines transmedialen Narratvis beginnen, sollten wir uns im Klaren sein, in welcher Storyworld wir uns bewegen möchten. Erst wenn die Adressierten in der Lage sind, sich diese Welt vor dem geistigen Auge vorzustellen, wird ein Text zum erlebbaren Narrativ. Die Storyworld bezeichnet dabei eine Art statisches Behältnis, in welchem unsere verschiedenen sprachlichen und nicht-sprachlichen Texte zuhause sind. Ryan spricht von „dynamische[n] Modelle[n] sich entwickelnder Situationen“ (Ryan, 2013).  Exakt diese Modelle sind der Ursprung eines jeden narrativ geplanten Imperiums. Ryan unterscheidet dabei zwei Komponenten von Storyworlds: Eine statische, die dem Narrativ vorausgeht und eine dynamische, die die Entfaltung des Narrativs beinhaltet. Diese Komponenten bestehen aus verschiedenen, teilweise optionalen Elementen:

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Die statische Komponente

1. Welche Wesen existieren in unserer Storyworld? Welche Gattungen, Rassen und Objekte sind möglich und welche Figuren besitzen einen individuellen Charakter?

2. Welchen Hintergrund besitzen diese Wesen? Gibt es eine Vorgeschichte, eine Kultur, soziale Regeln, Ordnungen und Werte?

3. In welchem geografischen Raum spielt unsere Geschichte und welche Merkmale weist dieser auf? Welche Naturgesetze gelten hier?

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Die dynamische Komponente

1. Welche physikalischen Ereignisse können geschehen, die existierende Subjekte und Objekte beeinflussen könnten?

2. Welche mentalen Ereignisse verleihen den physikalischen Ereignissen ihre Bedeutung? Was sind die zentralen Motive der handelnden Subjekte und von welchen emotionalen Einflüssen werden ihre Handlungen gelenkt?

Nun gilt es das Verhältnis zwischen der Storyworld und unseren Texten zu bestimmen. Nach Ryan existieren drei unterschiedliche Arten der Relation, wobei die letztgenannte für das transmediale Storytelling besonders interessant ist:

Ein Text, eine Welt: In diesem Fall ist unser Text sehr konkret und bildet den einzigen Zugang zur Storyworld. Die Storyworld ist damit genau festgelegt und leitet die Rezipierenden bestenfalls dazu an, gleiche oder zumindest sehr ähnliche Ereignissequenzen zu konstruieren. Da allerdings jeder Mensch aus einem Text ein anderes mentales Modell konzipiert, entwickeln sich selbst bei der 1-zu-1-Relation die unterschiedlichsten mentalen Interpretationen und Visualisierungen.

Ein Text, viele Welten: Damit ein einziger Text mehrere Welten aufrufen kann, muss er inhaltlich weitestgehend offen sein. Dies erleben wir beispielsweise bei Videospielen, bei denen die Rezipierenden durch eine Auswahl aktiv in die Ereignisabfolge eingreifen können.

Viele Texte, eine Welt: Diese Art der Relation tritt am häufigsten in oralen Kulturen auf. Die Veränderung des Ur-Textes kann dabei strategisch betrieben werden oder aber völlig unbeabsichtigt vonstatten gehen. Eine einzige Geschichte wird über Generationen weitergegeben oder gezielt für andere Zielgruppen aufbereitet.

5. narrative imperien errichten

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ie Konzeption narrativer Imperien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert: Während zu Beginn der Digitalisierung noch einzelne Geschichten gepitcht (den Investoren vorgestellt) wurden, hat man inzwischen erkannt, dass ein Welten-Pitch deutlich aussagekräftiger sein kann: Eine Welt kann diverse Figuren mit unzähligen Einzelgeschichten enthalten, die von den unterschiedlichsten Medien bespielt werden können. Dabei wirkt jede Einzelgeschichte wiederum identitätsstiftend für die in sie verwickelten Figuren und jede Figur formt die Welt, in der sie ihre Geschichte lebt. Damit liegt zwar erneut der Fokus auf der Handlung, jedoch deutlich diffuser als noch vor einigen Jahren: 

Schneewittchen – Das handlungszentrierte Erzählsystem

Das klassische Märchen ist der Prototyp eines handlungszentrierten Narrativs: Egal ob Schneewittchen, Rotkäppchen oder Dornröschen, – die individuelle Persönlichkeit dieser Damen beschränkt sich allein auf die Ereignisse, in die sie innerhalb der Erzählung verwickelt sind. Damit endet jedes Märchen exakt mit den Worten „Und wenn sie nicht gestorben sind…“, da keine der Figuren ausreichend Charakter besitzt, um weitere Geschichten zu tragen. Ähnliches gilt für die klassische Tragödie. Denn wie bereits Aristoteles feststellte, dominiert in der Tragödie die dramatische Aktion (Aristoteles: Poetik).

Damit steht für das Märchen und die Tragödie also der Plot als identitätsformendes Element fest, weshalb sich die Transposition hier besonders eignen würde, um eine Erweiterung vorzunehmen, da die Gefahr des Identitätsverlusts aufgrund einer Settingveränderung hier zu vernachlässigen ist

James Bond – Das figurenzentrierte Erzählsystem

Steht eine einzelne Figur, also eine fiktive Person, im Fokus des Erzählsystems, so wird dieser ein individuelles Eigenleben unterstellt, was die Rezipierenden dazu einlädt, sich diese Figur auch in anderen Situationen vorzustellen. Die Schwierigkeit liegt dabei in der persönlichen Entwicklung der Figur: Auch wenn das Narrativ einen größeren zeitlichen Rahmen abdeckt, darf sich die Figur psychologisch nicht weiterentwickeln, da sie das wichtigste identitätsformende Element des Erzählsystems darstellt. Aus diesem Grund basieren figurenzentrierte Narrative meist auf bereits vollkommenen Superhelden, die keiner großen persönlichen Weiterentwicklung mehr bedürfen, – sie haben bereits ihr charakterliches Endstadium erreicht. Damit können der Storyworld quasi unendlich viele Episoden hinzugefügt werden, die alle einem wiederholbaren Muster folgen.

Game of Thrones – Das weltzentrierte Erzählsystem

Wenn die Storyworld selbst als identitätsstiftendes Element fungiert, benötigt sie unveränderliche Eigenschaften mit Wiedererkennungswert. So können beispielsweise rekurrent auftretende Figuren als starre Designatoren dienen, wobei insbesondere die Namensgebung und das soziale Umfeld dieser Figuren die Welt formt. Je durchdachter eine Storyworld ist und je detaillierter die zwischenmenschlichen Beziehungen geplant sind, desto wirkungsvoller kann das Erzählsystem auf unterschiedlichen Medien erweitert werden. Daher sollte jede weltzentrierte transmediale Storyworld eine enzyklopädische Kapazität besitzen, so Jenkins.

6. Strategische Crossmedialität

Beim transmedialen Erzählen wird über mehrere Medien hinweg Transfiktionalität aufgebaut. Nach Dolezel und Ryan existieren vier mögliche Arten, wie fiktionale Welten untereinander verknüpft werden können. Die Welten transfiktionaler Texte können dabei auf unterschiedliche Weise auf die originale Welt Bezug nehmen. So ist beispielsweise eine transmediale Adaption denkbar, die versucht, die original Geschichte auf einem anderen Medium zu präsentieren (z.B. ein verfilmter Roman). In diesem Fall sind die Produzierenden meist bemüht, eine identische Welt zu zeigen. Auch bei der Expansion einer Welt durch den selben Autor gehört die Erweiterung noch zur selben Welt. Bei einer Expansion durch einen anderen Autor inkludiert die Erweiterung die originale Welt. Bei Modifikation und Transposition können die Welten überlappen:

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Expansion

Im Filmbereich hat sich für die Expansion einer Storyworld mittlerweile der Begriff Spin-Off etabliert. Es handelt sich dabei um eine Umfangserweiterung durch Hinzufügen einzelner Sachverhalte, anderer Erzählerpositionen oder einer zeitlichen Ausdehnung durch Pre- oder Sequels.

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Modifikation

Durch die Modifikation einer Erzählung wird häufig die Abfolge von Ereignissen und das Schicksal der handelnden Personen deutlich verändert. Auf diese Weise entstehen ganz unterschiedliche Versionen des Ur-Textes mit einer gänzlich anderen Struktur.

Transposition

Bei dieser Art der Verknüpfung wird das Wesen der ursprünglichen Storyworld an sich kaum verändert: Die Hauptgeschichte bleibt bestehen, wird aber in ein anderes zeitliches oder räumliches Setting eingefügt. Auf diese Weise können klassische Texte für jüngere Generationen mit neuer Bedeutung aufgeladen werden.

Doch Vorsicht: Häufig ist nicht der Plot das eigentlich identitätsformende Element, sondern das Setting. Wenn wir also das Setting verändern, verliert ggf. die gesamte Storyworld ihre Identität.

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Zitation

Diese Art der Relation ist eine relativ lockere Verknüpfung zweier Welten: Hierbei werden lediglich einzelne Elemente aus fremden Welten „geliehen“, ohne tatsächlich integriert zu werden. Dies kann unter Umständen befremdlich bzw. surrealistisch wirken und erinnert teilweise an die Ästhetik des Dadaismus.

Obacht: Das Ausborgen eines Elements aus einer externen Welt wirkt schnell ungewollt komisch und damit distanzierend, da die Einheit und Autonomie der eigentlichen Storyworld ins Wanken gerät.

Multimediale Erweiterungen: Die Expansions-Variante

Beispielsweise bei Videospielen die auf Filmen basieren. Hier wird häufig eine neue Figur eingeführt, in dessen Rolle der/die Spielende dann schlüpfen kann. Auf diese Weise ist er/sie nicht gezwungen sich mit einer Filmfigur zu identifizieren, sondern findet eine jungfräuliche Identifikationsfläche vor. Die ursprüngliche Geschichte wird also um Figuren, Plots, Zeiträume oder Ereignisse erweitert. Auf diese Weise können Aspekte in den Fokus gerückt werden, deren Potential in anderen Versionen der Geschichte noch nicht ausgeschöpft werden konnte. Carlos Scolari unterscheidet bei der Expansion einer Erzählung sogenannte Zwischenzeitgeschichten, die den Zeitraum der Originalgeschichte erweitern, Parallelgeschichten, die lediglich den Fokus verändern, aber im selben Zeitraum ablaufen, und periphere Geschichten, die nur entfernt etwas mit der ursprünglichen Storyworld gemein haben.

7. Alternative Realitäten

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ie faszinierend ein strategisch geplantes narratives crossmediales Imperium sein kann, zeigt das Alternate Reality Game (kurz: ARG). Diese 2001 etablierte Spielform besteht allein aus einer multimedialen Erzählung mit Rätseln, die es von den Rezipierenden zu lösen gilt. Für ARGs werden meist sämtliche Informationsvermittlungssysteme genutzt, die den Produzierenden zur Verfügung stehen: Websites, Mails, GPS, Telefonanrufe bzw. Bandansagen, Poster, Aushänge und zuweilen sogar echte Darsteller, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an bestimmten Orten anzutreffen sind. An sich existieren jedoch keine zeitlichen Vorgaben oder Strukturen, wodurch jeder Rezipient eine leicht andere Erfahrung mit dem ARG macht. Jane McGonigal, eine führende ARG-Designerin, spricht daher von „chaotischen Storytelling“.

Das ARG lockt also die Rezipierenden aus ihrer passiven Rolle des reinen Konsums heraus, um selbst aktiv an der Problemlösung mitzuwirken. Der eigentliche narrative Inhalt verliert damit sukzessive an Bedeutung, während die Freude am Rätsel in den Vordergrund rückt. Dabei möchten Rezipierende geradezu „vergessen“, dass es sich um eine fiktionale Welt handelt, was das immersive Erlebnis (das emotionale Eintauchen in die Geschichte) besonders intensiv macht.

Alternate Reality Games als Marketinginstrumente

Häufig werden ARGs allein dafür konzipiert, um ein anderes Medienprodukt zu bewerben. So beispielsweise das erste ARG aller Zeiten, welches entwickelt wurde, um den Spielberg Film „A.I. Artificial Intelligence“ (2001) zu promoten. Problematisch wird dieses Marketing, wenn Serien beworben werden, die parallel zum ARG ausgestrahlt werden. Hier gilt es nicht nur den Inhalt beider Medien zu koordinieren, sondern auch den zeitlichen Rahmen. Die ARG-Zeit muss also auch hinsichtlich der Laufzeit der Serie geplant werden und entsprechend als Prequel, Sequel oder Parallelerzählung integriert werden.

Ein bekanntes Problem von crossmedialen Storysystemen ist die Geschlossenheit einzelner Elemente. So möchten die Produzierenden schließlich auch Rezipierende zufrieden stellen, die lediglich ein einzelnes Medium konsumieren. Daher benötigt jedes einzelne Dokument ein klar definiertes Ende, muss aber gleichzeitig noch so offen sein, dass weitere Inhalte damit verknüpft werden können. Des Weiteren gilt es Redundanzen zu vermeiden, um die Adressierten selbst dann nicht zu langweilen, wenn sie alle angebotenen Dokumente rezipieren.

Um ein transmediales System am Leben zu erhalten, empfiehlt Ryan daher einen Kompromiss zwischen Offenheit und Geschlossenheit: Es gilt die einzelnen Abschnitte als „gewonnene Schlacht in einem noch nicht gewonnenen Krieg“ zu inszenieren. „Die Eliminierung alles Bösen wäre das Ende der Welt – und konsequenterweise auch das Ende der Storyworld.“ (Ryan, 2013)

8. Fazit

Crossmediale Projekte erfreuen sich zur Zeit einer nie dagewesenen Popularität. Natürlich insbesondere im Bereich des Marketings: Rezipierende werden auf einfachste Weise dazu angeleitet, diverse Medien zu konsumieren und sich dennoch mit demselben Produkt zu beschäftigen. So wird beispielsweise den TV-Zuschauern von Germanys Next Topmodel suggeriert, sie verpassten spannende Hintergrundstories, wenn sie den Kandidatinnen nicht auf Instagram folgten. Und die Zuschauer gehen gerne mit: Man ist neugierig, was sich die Medienmacher einfallen lassen, hat selbst Lust auf das Experiment „Crossmedialität“. Zudem diese Zusatzinformationen zeitlich vollkommen flexibel rezipiert werden können, ohne an einen allwöchentlichen 20.15 Uhr-Termin gebunden zu sein.

Gleichzeitig genießen wir die gemeinschaftsstiftende Wirkung von starken Narrativen: Gläubige identifizieren sich mit biblischen Erzählungen und definieren sich über die entstandene Gemeinschaft, was ein urmenschliches Bedürfnis in uns befriedigen kann.

Letztendlich gewinnt ein crossmediales Erzählsystem seine Anziehungskraft aber durch eine klassische Kosten-Nutzen-Rechnung: Wir lieben die Immersion. Wir möchten also gedanklich in Geschichten eintauchen, da wir es als befriedigend empfinden. Jedoch erfordert es einigen geistigen Aufwand, um ein Erzählsystem gedanklich so weit durchdringen zu können, dass Immersion möglich wird. Wurde diese Energie aber einmalig aufgebracht, so ist es dem Individuum zu jedem erdenklichen Zeitpunkt möglich in diese Storyworld zurückzukehren. Ein Angebot, das unsere Vorstellungskraft nur allzu gerne annimmt.

Autorin

Carina D. Bukenberger

Medienrhetorik & Corporate Publishing

C.Bukenberger@LEONARTO.de

Quellen und Literaturempfehlungen

AristotelesPoetik. Gr./Dt. Hrsg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann. Bibliogr. ergänzte Ausgabe Stuttgart: Reclam, 1994. S.19.

Barthes, Roland; Duisit, Lionel: An Introduction to the Structural Analysis of Narrative. New Literary History, Vol. 6, No. 2, On Narrative and Narratives. (Winter, 1975), S. 237-272.

Doležel, Lubomír: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Johns Hopkins University Press, 1998.

Genette, Gérard: Narrative Discourse: An Essay in Method, trans. Jane Lewin, Ithaca: Cornell University Press, 1980.

Jenkins, Henry: Convergence Culture. Where old and new Media collide. NYU Press, 2006.

Knape, Joachim: Narratio. In: Ueding, G. (Hrsg.): Hist. Wörterbuch der Rhetorik. Band 6. Spalten 98-106.

Ryan, Marie-Laure: Narrative across Media: The Languages of Storytelling. Nebraska Press, 2004.

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