Kalkül oder Gefühl?

Dichotomien der neuzeitlichen Rhetorik

April 2019      |    Allgemeine Rhetorik

Quellen und Literaturempfehlungen am Ende der Seite.

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Aus Gründen einer verbesserten Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet. Dies beinhaltet keinerlei Wertung und schließt sämtliche Geschlechteridentitäten mit ein.

1. Vorwort

D ie Frage nach Stellung und Gewichtung von Kalkül und Gefühl resp. Kunst und Natur in der Ausbildung zum Redner beschäftigt Rhetoriker bereits seit der Antike. Man stellte sich zum einen die Frage nach dem Ursprung der Rhetorik als Kunstlehre: Ist das theoretische System der Rhetorik aus der natürlichen Beredsamkeit abgeleitet? Oder entsteht wahre Beredsamkeit erst durch ein Studium der Kunstlehre? Und wenn ja, gibt es dann überhaupt eine <natura>? Zum anderen gilt es den Einsatz „künstlicher“ rhetorischer Mittel vor diesem Hintergrund neu zu überdenken: Bis ins 18. Jahrhundert lehrte man nach Quintilian et al., dass einzig die Konformität eines Sprechakts mit den Regeln der ars diesen als <rhetorisch> klassifizierten. Das Wirkungsmoment spielte also kaum eine Rolle: Selbst wenn ein Laie im Affekt einen persuasiven Erfolg erzielt, sei dies allenfalls „Rhetorizität“. Rhetorik aber galt als produktive Kunstlehre, als Handwerk das gelernt sein will. Entsprechend genossen beinahe alle großen Schriftsteller jener Zeit eine fundierte Ausbildung in der ars rhetorica, bevor sie sich in ihren Werken aus Sturm und Drang oder der Romantik versuchten gänzlich von ihr loszusagen:

„Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für Gesundheit.“

Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, 1795.

Mit dieser Wende gegen die Rationalität der Aufklärung und Strenge der Klassik verlor die Rhetorik als zentrale textkompositorische und argumentative Schlüsselqualifikation zunächst stark an Einfluss. Das wahre Genie sei gekennzeichnet von einer Übereinstimmung mit der Natur, nicht mit der Kunst. Damit begann der Siegeszug einer neuen, auf Affekte restringierten <Naturrhetorik>, der in Teilen noch heute anhält. Und trotzdem oder gerade deshalb fragen wir uns immer noch: Regelkonformität oder Wirkung? Kunstlehre oder Begabung? <ars> oder <natura>? Was ist Rhetorik wirklich?

Das Kernproblem der Ars-Natura-Dialektik liegt darin begründet, dass Fertigkeiten, die auf Basis einer Kunst ausgebildet werden, immer auch in einer produktiven Auseinandersetzung mit der Natur erworben werden. Also weist ohnehin jeder Künstler resp. jedes Kunstwerk eine gewisse Strukturähnlichkeit zur Natur auf, wodurch in jedem Kunstwerk automatisch ein gewisses Wechselverhältnis von Natur und Kunst angelegt ist (Vgl. Till, 2006).

Die Auseinandersetzung deutscher Schriftsteller mit der Ars-Natura-Dialektik begann um 1700: Man orientierte sich mit Vorliebe an französischen Vorbildern, was eine strenge Trennung zwischen Poetik und Rhetorik zur Folge hatte. Dichter seien Genies, vom furor poeticus ergriffen, Redner beherrschten lediglich eine erlernbare Fähigkeit. Bodmer und Breitinger kommen in den 1740er Jahren sogar überein, der Affektzustand könne die Kenntnis der ars rhetorica gänzlich ersetzen. Man vertraute also allein auf die Produktionskraft des natürlichen Affekts, was die Rhetorik als produktive Kunstlehre in diesem Moment obsolet machte. 

2. Rhetorik als kunstlehre

Die ars rhetorica als lehr- und lernbare Kunst

D ie Rhetorik der römischen Antike basierte auf der Vorstellung von Rhetorik als einer lehr- und lernbaren Kunst, die mit nur wenigen Unterbrechungen bis ins 18. Jahrhundert hinein an zahlreichen Schulen und Universitäten unterrichtet wurde. Somit besaß ein Großteil der Autoren jener Zeit noch eine solide rhetorische Ausbildung, was die Literatur jener Zeit entscheidend prägte.

Nun findet sich in den „Fünf Aufgaben des Redners“ (lat. officia oratoris) quasi eine zeitlich gegliederte Anleitung für die sprachliche Ausgestaltung eines rhetorischen Aktes. Die ars sollte also nach antiker Auffassung stets Produktionsgrundlage eines rhetorischen Sprechaktes sein: Weder die Anwendung von affekterregenden Mitteln, noch die geglückte Persuasion allein konstituieren einen rhetorischen Sprechakt. Denn Wirkung ist mit Rhetorik nicht identisch: Aus der korrekt angewandten Kunstlehre kann Wirkung entstehen; der Umkehrschluss ist ausgeschlossen (Vgl. Till, 2006). 

Bereits Quintilian betonte jedoch die wechselseitige Abhängigkeit von ars und natura. Er definierte eine gute natürliche Anlage als unbedingte Voraussetzung für einen vir bonus, also einen guten Orator nach Cato. Quintilian legte außerdem großen Wert auf eine detaillierte theoretische Ausbildung, die von praktischen Übungen ergänzt werden sollte:

„Nur wer die Theorie der Rhetorik kennt und den Bildungsgang des Redners durchlaufen hat, muss nicht auf eine Eingebung von oben hoffen, sondern kann auf die eigene rednerische Kraft vertrauen.“

Quintilian: Inst. Or. (95 n.Chr.)

Der lateinische Begriff ars steht für eine Kunstlehre im Sinne des älteren Kunstbegriffs. Der griechische Begriff für ars ist téchnē. Verwandte lateinische Termini sind ratio, doctrina und praecepta.

Der vir-bonus-Satz nach Cato: „Orator est vir bonus dicendi peritus.“ ~ Ein vollkommener Redner ist ein rechtschaffener Mann, der reden kann.

3. Beredsamkeit als natürliche Anlage

Die rhetorische <natura>

<natura> ist die dem Einzelnen von Natur gegebene, individuell ausgeprägte intellektuelle und physische Disposition:

  • Urteilskraft, Begabung und Erinnerungsvermögen
  • Kraft, Stimme und Zungenfertigkeit

Oohne Zweifel verfügt jeder Mensch in anderem Maße über die „Gaben der Natur“, seien diese körperlich, wie Stimmklang, Kraft und Zungenfertigkeit, oder mental, wie Erfindungsreichtum, Memorierfähigkeit oder Urteilskraft. All diese Fähigkeiten ergeben gemeinsam die natürliche Anlage eines Redners/einer Rednerin, die durch die ars weiter ausgeformt werden. Die Frage, ob Rhetorik und Beredsamkeit eine reine Naturbegabung sein können, stellt sich beinahe seit der ersten Stunde der ars persuadendi. Quintilian antwortete darauf mit einem entschiedenen ‚Nein‘: Eine naturgegebene Beredsamkeit als wahre Rhetorik zu betrachten, würde bedeuten Wirkung mit Rhetorik gleichzusetzen. Stattdessen sollte jedoch die Kunst auf der Tätigkeit beruhen, nicht auf der Wirkung. Cicero zog hier den Vergleich zur Arbeit eines Arztes, der seinen Patienten nach allen Regeln der Heilkunst behandelt, aber aufgrund der schwere der Erkrankung keine abschließende Heilung erreichen kann. So ist in einigen Fällen auch ein nicht geglückter rhetorischer Sprechakt eher als Rhetorik zu betrachten als eine geglückte Affekthandlung. 

Diese Abwertung einer spontanen und natürlichen Affektrhetorik wird im 18. Jahrhundert erstmals wieder aufgegriffen und in aufklärerischer Manier ins Gegenteil verkehrt: Das anthropologische Wissen der Rhetorik findet Eingang in den damaligen Geniediskurs. Das Ideal des unabhängigen, sich selbst verwirklichenden Originalgenies und seine creatio ex nihilo dominieren die Rhetorik des Sturm und Drang. 

Nicht zuletzt für die rhetorische Pädagogik wirft die Ars-Natura-Dialektik eine spannende Fragen auf: Welchen Stellenwert nimmt die natura (die natürliche Anlage) in der Ausbildung ein und welche Möglichkeiten gibt es, die natura eines Redners/ einer Rednerin durch eine Unterweisung in den Regeln der ars weiter zu entwickeln und zu formen?

Im antiken System der Rhetorik hatte die Heranbildung der Redekunst unter starker Berücksichtung der natürlichen Anlage eines Schülers/einer Schülerin zu erfolgen. Das System, an dem sich Lehrende und Lernende gleichermaßen orientieren sollten, ist für Cicero aus der natürlichen Beredsamkeit entstanden. So hält er in <De Oratore> unmissverständlich fest: „Nicht die Beredsamkeit [ist] aus einem theoretischen System [entstanden], sondern das theoretische System aus der Beredsamkeit […]“. 

4. Poetik als Sondergattung der Rhetorik

Zum Poet geboren, zum Redner gemacht?

Betrachtet man die frühneuzeitliche Geschichte der Poetik, fällt zunächst auf, dass diese stark von der rhetorischen Theoriebildung geprägt war. Ursprünglich wurde sie sogar als Untergattung der Lobrede (gr. genós epideiktikón, lat. genus demonstrativum) wahrgenommen. Damit spielten in dieser Sondergattung rhetorischer Texte natürlich die officia oratoris und die virtutes dicendi ebenso eine Rolle wie Topik, Stilvorschriften und Figurenlehre. Insbesondere die zuletzt genannten wurden in den Poetiken sogar weitaus detaillierter ausgearbeitet als in den Schriften der Rhetorik. Goethe selbst sollte später darüber schreiben, dass die Redekunst alle Vorteile der Poesie missbrauche, um augenblickliche Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen (Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr.511). Opitz betonte 1624 in seinem Buch von der Deutschen Poeterey, dass man durch diese Kunstregeln allein niemanden zu einem Poeten machen könne und schließt damit an Überlegungen von Quintilian an.

Obwohl also auch das 17. Jahrhundert stark von der Rhetorik geprägt war, kursierten auch in diesen Jahren weiterhin Elemente einer „enthusiastischen“, auf der Produktionskraft des Affekts begründeten Dichtungstheorie. Sogar wurde der Berufung auf den furor poeticus (rauschhafter Zustand eines inspirierten Dichters) von zahlreichen Autoren eine zentrale apologetische (also rechtfertigende) Funktion eingeräumt: Wer Gedichte verfasst, ohne vom furor poeticus ergriffen zu sein, sei lediglich ein Reimschmied, aber kein Poet. Entsprechend war das, was das Gedicht als solches ausmachte, nicht die Form, sondern ein Kriterium jenseits der lehr- und lernbaren Kunst.

Der „Enthusiasmus kömmet nicht stets, sondern will erwartet seyn„, schreibt Johann Georg Neukirch in seiner Poetik 1724. Somit stehen in der Dichtungstheorie einige der Rhetorik entlehnte Begriffe quasi unverbunden neben poetischen Bezeichnungen, – für einige Zeit noch ohne miteinander in Konflikt zu geraten. Erst in den Jahrzehnten um 1700 veränderte sich dieses Verhältnis, was die Kohärenz der Poetiken nachhaltig beeinträchtigen sollte: Man begann sich stark an den französischen Vorbildern zu orientieren, was die Trennung von Poetik und Rhetorik vorantrieb.

Poeta nascitur, orator fit.

Das poeta doctus-Ideal

In der Antike forderte Horaz für Schriftsteller eine wissenschaftliche Ausbildung und postulierte das Ideal des poeta doctus, also des gelehrten Poeten. Er lehnte eine „inspirierte“ Poesie-Konzeption strikt ab, akzeptierte lediglich das Moment göttlicher Inspiriertheit aus der platonisch-neuplatonischen Tradition. Diese Modelle des poetischen enthusiasmós übernehmen zwar Strukturen und Inhalte aus den Rhetoriken, behalten aber natura und das Konzept einer „begeisterten“, auf der Produktionskraft des Affekts beruhenden Dichtungstheorie als Basis.

Nach Horaz et al. benötigt ein wirklich ergriffener poeta doctus also keine Hilfsmittel. Zum Beispiel wurde die Verwendung von Kollektaneenbüchern zu Inspirationszwecken abgelehnt. Stattdessen seien die zentralen Quellen des Erhabenen erhabene Gedanken und starkes Pathos, so Pseudo Longin, dessen Traktat Über das Erhabene durch eine französische Übersetzung erst jetzt weitere Verbreitung fand.

Historischer Überblick

Vorromantische Rhetorik

~ 1600 – 1700

Während Humanismus und Barock galt die Rhetorik insbesondere innerhalb beschränkter Öffentlichkeiten wie Kirche, Schule und Hof als bedeutsam.

Romantische Rhetorik

~ 1800

In Klassik und Romantik strebte man nach einer Universalisierung und Öffnung der Rhetorik. Mündlichkeit wurde durch Veröffnetlichung ersetzt.

Postromantische Rhetorik

~ 1900

In der Moderne vollzog sich eine Distanzierung von den Traditionsbeständen der ars rhetorica und ihrem „Lehrbuchwissen“.

5. Goethe, Faust und die Rhetorik

Das Genie gegen die antike Tradition?

In seinem bedeutendsten Werk „Faust. Eine Tragödie.“ fasste Goethe 1808 die wichtigsten rhetorischen Thesen des Sturm und Drang zusammen. Einer der markantesten Sätze des Faust ließ damals bereits Zweifel an der Bedeutung der Rhetorik jener Zeit aufkommen:

„Es trägt Verstand und rechter Sinn
mit wenig Kunst sich selber vor.“

Goethe: Faust I, 1808.

Auch wenn diese Zeilen lange Zeit von Literaturtheoretikern als Absage an die Rhetorik insgesamt interpretiert wurden, so steckt doch einiges mehr dahinter: Faust und Wagner diskutieren hier die Ars-Natura-Dialektik auf produktionstheoretischer Ebene und rücken scheinbar den Cato’schen Grundsatz „rem tene, verba sequentur.“ in den Fokus ihrer Debatte. Faust verurteilt die Selbstaffektation („Und blast die kümmerlichen Flammen Aus eurem Aschenhäuschen raus!„) und die künstliche Erregung von Affekten („Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen, Wenn es euch nicht von Herzen geht.„) Sollte der Redner sich also überhaupt Gedanken um die Formulierung machen, oder genügt es von einer Art furor rhetoricus ergriffen zu sein?

Wie auch immer diese Frage beantwortet wird, so gilt es stets zu bedenken, dass die antike Rhetorik sowohl die Rhetorik als Kunstfertigkeit, als auch eine Art naturgegebene Rhetorik integriert, welche individuelle Wirkungen und Affekte des Redners berücksichtigt. Somit sind die bekannten Faust-Zitate eben nicht als Abwende von der Rhetorik zu verstehen, sondern als Anspielungen auf ein eher anthropologisches Rhetorikverständnis, das die Natur des Redners im Mittelpunkt sieht. Denn wie seine Lyrik beweist, glaubte Goethe, wie bereits Cicero und Quintilian, an ein Zusammenwirken von ars und natura, von individueller Empfindung und rhetorischer Kunstfertigkeit. Diese neue Theorie der natura fand sodann ihren Eingang in den damaligen Genie-Diskurs und wurde um den Begriff des ingeniums erweitert. ⇒ Vertiefend dazu: Genie und Ingenium.

Es kursiert dennoch die Theorie, dass man die für den Sturm und Drang fundamentale Vorstellung des kreativ-schöpfenden Genies künstlich in Goethes Werke hineinlesen wollte. Der Philologe Wilfried Stroh definiert Goethes Worte als klare Hervorhebung der Wahrheit und der Aufrichtigkeit des Gefühls, weniger des kreativ Genialen. Damit betont Stroh die Einflüsse einer Pietismusrhetorik aus Goethes Jugendtagen, welche eine künstliche Selbstaffektation ebenfalls stark verurteilte. Damit entstammt die hier debattierte Rhetorik weder der Antike, noch dem neu um Goethe entflammten Geniekult: Faust „folgt in all den Punkten, in denen er sich von der traditionellen Rhetorik absetzt, seinem pädagogischen Bedürfnis, mit Ernst und mit Gefühl als moralischer Prediger zu wirken, als ein Pfarrer – den ein Komödiant nichts lehren könnte.“ (Stroh, 2015)

Dennoch wurde der ursprünglich organische Zusammenhang von ars und natura im Sturm und Drang gewissermaßen aufgelöst: In der Genie-Zeit blieb neben dem Ideal des unabhängigen, sich selbst verwirklichenden Individuums wenig Raum für Kunst oder gar Künstlichkeit. Das poetische Genie wurde durch ein „naturgegebenes“ ingenium aufgewertet, – die Rhetorik als lehrbare Kunst abgewertet. Im Zuge dessen veränderte sich auch die Zuordnung sprachlicher Ausdrucksmittel grundlegend: Was von Quintilian noch radikal zu bewusst eingesetzten Kunstmitteln gezählt wurde (wie beispielsweise die exclamatio (der Ausruf)) soll fortan entweder der reinen Seele entspringen, oder gar nicht angewandt werden. So schrieb der Jenaer Rhetorikprofessor Hallbauer dazu: „Denn wer sie [die Kunstmittel] mit Vorsatz in die Rede nein schiebet, und wol gar erst aus der Rhetorik zusammen lesen muss, der wird elend und gezwungen Zeug zu Marckte bringen.“ (Hallbauer, 1727)

Der Geniekult des Sturm und Drang (1765-1790) forderte von seinen Autoren, dass ihr Stil allein von ihrer individuellen Disposition und natürlichen Anlage geprägt sei, nicht von den Regeln der Kunst. So gelangte man zu der Vorstellung, dass sich im Stil eines Poeten die Beschaffenheit seines Gehirns ablesen lasse. Hier zeigten sich bereits die Ursprünge einer neuen Hermeneutik, die im 18. Jahrhundert zu einer deutlichen Verdrängung der Rhetorik führen sollte: Der Autor und seine Intension rücken fortan in den Mittelpunkt einer jeden Textanalyse.

Insbesondere im Bereich der inventio, dem ersten Produktionsstadium der Rede, welches sich dem Auffinden und Erfinden von Gedanken und Möglichkeiten widmet, zeigten sich bald gravierende Veränderungen: In der Rhetorik galt der Gebrauch von loci-Katalogen und Kollektaneenbüchern als üblich, während sich der Poet bei der inventio allein auf seinen enthusiasmus poëticus verlassen sollte. Wird für das Verfassen eines Gedichts eine erlernbare topische inventio, wie sie die Rhetorik vorsieht, angewandt, so führe dies leicht dazu, dass ein Gedicht an Wirkungskraft einbüße..

Cato:

„rem tene, verba sequentur.“

Beherrsche die Sache, dann werden die Worte folgen.

Obwohl dieser Satz von Cato starke Ähnlichkeit zu Goethes „Es trägt Verstand und rechter Sinn…“ aufweist, kann theoretisch hier kein wahrer Zusammenhang bestehen. Laut Wilfried Stroh war Catos Satz weder Quintilian bekannt, noch wurde er in Quintilians Lehren aufgenommen, die schließlich von Goethe Jahrhunderte später rezipiert wurden. Damit widerspricht Wilfried Stroh dem Tübinger Rhetorikprofessor Olaf Kramer vehement, der Catos Satz als durchaus konventionell bezeichnete.

Für Goethe sollte im Folgenden allein die Aufrichtigkeit des Anliegens und der empfundenen Emotion im Vordergrund stehen: Die pronuntiatio ordnet er als weniger bedeutsam ein, entwertet die Selbstaffektation, sowie die imitatio mustergültiger Vorbilder und verspottet den übermäßigen Gebrauch von ornatus bei der elocutio.

6. Schillers Ideal einer rhetorischen Ästhetik

Die Form als freie Erscheinung innerer Notwendigkeit

Wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit vermochte Schiller die emotionale Wirkung seiner Werke aufs Genaueste zu antizipieren. Für ihn habe die Dichtung als Kunst die Aufgabe, Affekte zu erzeugen. Damit dies gelinge, gilt es die Mittel der Kunst angemessen einzusetzen. Mit dieser Einstellung, der Schriftsteller sei ein Operateur, der seine eigene Arbeit am Text kalkulierend überwacht, war Schiller seiner Zeit voraus. Dennoch sah er sich selbst mehr als Dichter, denn als Redner: In der Rhetorik ordne sich die Schönheit dem ernst gemeinten Zweck unter (lat. persuadere ~ überzeugen), während die Schönheit in der Poetik keine Abhängigkeit von anderen Zwecken dulde (lat. prodesse et delectare ~ nützen und erfreuen). Mit dieser Theorie geriet Schiller selbst jedoch immer wieder in Konflikt: Im Gegensatz zu seinen Mitstreitern der Geniebewegung, welche die Natur als höchstes Ideal ansahen, übersetzte Schiller immer wieder klassische Mustertexte, um das „Wahre, Schöne und Wirkende“ daraus zu abstrahieren. Denn er sah die Kunst als „Wiederherstellung des Naturganzen“ und somit als erforderlich für die Harmonisierung zwischen geistigen und sinnlichen Kräften. In seinem Aufsatz „Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“ beschreibt Schiller die verschiedenen Aspekte des schönen Stils und rückt auch dabei die Stellung von ars und natura in den Fokus seiner Überlegungen:

„Die höchste Gesetzmäßigkeit muss da sein, aber sie muss als Natur erscheinen.“

Schiller, 1795

Mit diesen Zeilen spielt Schiller auf das antik-rhetorische Prinzip des dissimulatio artis an, dem Verbergen der Kunst. Der Redner müsse sich durch abstrakte Zeichen des Verstandes an das Gemüt der Zuhörer wenden. Dabei seien Sinnlichkeit und Bildlichkeit kein aufgesetztes Ornat, sondern die freie Erscheinung der inneren Notwendigkeit. Diese Schreibart sei typisch für das Genie, welches bald zum Ideal aller Menschen werden sollte, – ganz ähnlich wie der vir bonus der Antike.

Als begeisterter Protagonist der Geniebewegung nannte Schiller die Originalität das Kennzeichen eines genialen Werks. Dezidierter sprach er über die ars-natura-Dialektik in seinen Überlegungen über das naive und das sentimentalische Genie. Goethe sei ein lebendes Beispiel für das naive Genie: Ein Außenseiter, der „durch ein glückliches Schicksal von dem verstümmelnden Einfluss der Zeit verschont geblieben“ ist (Ueding, 1971). Im Unterschied zum sentimentalischen Genie hat das naive Genie die Hilfe von Regeln nicht nötig. Die naive Dichtart strebt nach Übereinstimmung mit der Natur, die sentimentalische sucht diese zu meiden. Schiller setzt ars und natura auf diese Weise in ein zeitliches Nacheinander: Er spricht von einer ursprünglichen naiven Dichtart, sowie einer modernen sentimentalischen. Als höchstes Ideal beschreibt Schiller die Idylle, in welcher geistige und sinnliche Kräfte in einer Ausgewogenheit von ars und natura harmonieren. Diese Ausgewogenheit erreiche der Dichter allein durch eine „wahrhaft schöne Schreibart“, welche populär-didaktische und wissenschaftliche Redeweisen in sich vereint. „Sie vereinigt höchste Gesetzmäßigkeit und schöne Form, so dass das Notwendige frei, das Gesetzmäßige natürlich erscheint.“ (Ueding, 1992)

1795 unterscheidet Schiller in seinem Aufsatz „Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“  drei Schreibweisen, die sich grob mit den officia oratoris decken: die wissenschaftliche (docere), die populäre/didaktische (delectare) und die schöne (movere). 

Schiller beschäftigt sich in seinen theoretischen Schriften vorrangig mit der Wirkung der Tragödie. Seine Affektenlehre gipfelt schließlich in der Erkenntnis, dass bei den Künsten des Verstandes eine rationale Komponente überwiegt, in den Künsten des Gefühls eine emotionale. So fordert Schiller für die Tragödie eine erhabene und rührende Wirkung. Die Unmittelbarkeit dieser emotionalen Wirkung ist es allein, die der dramatischen Kunst für Schiller ihren Wert verleiht. In seinen späteren Werken ordnete er diese emotionale Wirkung jedoch dem eigentlichen Zweck der Kunst, dem In-Freiheit-Setzen des Lesers, deutlich unter.

Das naive Genie ist abhängig von der empirischen Realität und läuft stets Gefahr, sich der Wirklichkeit zu stark anzunähern. Die realistischen Schöpfungen des naiven Genies lassen zu Weilen den Geist vermissen: „Durch seine Natur muss es alles tun, durch seine Freiheit vermag es wenig.“

Das sentimentalische Genie verlässt die empirische Realität, um zu neuen Ideen aufzusteigen. Es vermag geistige und sinnliche Kräfte in Harmonie zu bringen, beherrscht also die wahrhaft schöne Schreibart. Dennoch läuft der Idealist Gefahr, durch fehlende Nüchternheit die Grenzen von Natur und Vernunft zu sprengen. So kommt es vor, dass der Gegenstand nicht mehr klar zu erkennen ist. 

„[S]o schwebe ich […] zwischen der Regel und der Empfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie. […] Noch jetzt begegnet es mir häufig genug, dass die Einbildungskraft meine Abstraktionen und der kalte Verstand meine Dichtung stört.“

Schiller im Briefwechsel mit Goethe, 1794. 

7. Die natürliche Selbstaffektation

Das ‚ut moveamur ipsi‚ in der Dichtungstheorie

„Nur Feuer kann einen Brand entfachen, nur Feuchtigkeit uns durchnässen, und nichts kann auf andres abfärben, wenn es selbst die betreffende Farbe nicht hat. Das erste ist es also, dass […] wir uns selbst ergreifen lassen, ehe wir Ergriffenheit zu erregen versuchen.“ 

Quint. Inst. Orat. VI, 2, 28.

Die Strategie der natürlichen Selbstaffektation wurde erstmals von Cicero und Quintilian angedacht und ist an sich nicht als Teil des antiken Rhetoriksystems zu fassen. Quintilian diskutierte sie beispielsweise im Kontext der Stegreifrede, welche er als Krönung der rhetorischen Kunstfertigkeit betrachtet. Hier gilt es für den Orator mit unkalkulierbaren Wendungen und Widerständen geschickt umzugehen, was für Quintilian keinesfalls eine Naturgabe sein kann, sondern als Fähigkeit aus langjähriger Übung und Anstrengung entwächst.

Den Affekttopos des ut moveamur ipsi  („dass wir uns nämlich selbst erregen“) beschränkt Quintilian wiederum auf die Gerichtsrede, bei der rationale Beweisgründe häufig nicht hinreichend sind, weshalb die Hörer durch emotionale Appelle geneigter gestimmt werden müssen. Dennoch gilt es dabei den authentischen Schein zu wahren, indem sich der Redner durch die Vorstellung von „Bildern“ selbst affiziert und so in einen „echten“ emotionalen Zustand gerät.

In der Poetik der Frühaufklärung wurde dieser Gedanke einer natürlichen Selbstaffektation wieder aufgegriffen, zum Teil mit apologetischer Funktion: Die Züricher Dichtungstheoretiker Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger betonten in ihren Poetiken insbesondere das Wirkungsmoment poetischer Texte, eröffneten aber auch eine starke Dichotomie zwischen ‚Natürlichkeit‘ und ‚Künstlichkeit‘: Zum Beispiel sollte die exclamatio, also der Ausruf, welcher von Quintilian noch ausdrücklich zu den bewusst eingesetzten Kunstmitteln gezählt wurde, immer aus dem „inneren Grunde des lebhaft gerührten Herzens“ fließen, ansonsten treffe sie nur „selten und schwerlich das rechte Maß“, so Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst (1740).

Die Vorstellung, Affekt und Leidenschaft könnten die Rhetorik als Kunstlehre ersetzen, dominierte fortan die Lehren der Poetik. Rhetorische Figuren galten damit als Produkt eines natürlichen Affekt-Ausdrucks, dessen Ursprung im Herzen des Poeten liegt:

Die Regung wird ihm die Worte und Figuren auf die Zuge legen […]“, so Bodmer und Breitinger in ihrem Traktat Von dem Einfluss und Gebrauche der Einbildungskraft (1727). 

In diesem Traktat wird der Horaz’sche Grundsatz der Selbstaffektation zur absoluten und einzigen Schreibvoraussetzung erklärt und ersetzt damit jegliche Kenntnis der ars rhetorica. Doch nicht nur das: Laut Bodmer und Breitinger müsse ein Text, der auf Grundlage rhetorischer Lehrbücher verfasst wurde, zwangsläufig scheitern, da er nichts als „kalt, gesucht und pedantisch“ wirke. 

Antike Grundsätze der Selbstaffektation

Horaz: „Si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi.“(Wenn du mich zu Tränen rühren willst, musst du den Schmerz zuerst selbst empfinden.)

Mit diesem Ausspruch legte Horaz den Grundstein einer Natur-Rhetorik, die sich allein auf die Produktivkraft des Affekts verlässt.

Quintilian: „Pectus est enim, quod disertos facit, et vis mentis.“ (Das Herz/das Gemüt und die Kraft des Geistes sind es, die beredsam machen.)

Quintilian gibt damit zu, dass auch Ungelehrten die Worte nicht fehlen, wenn sie von Leidenschaft ergriffen sind. Jedoch hat diese Art der reinen Affekt-Rhetorik für ihn nichts mit der ars rhetorica zu tun. Dennoch revolutioniert er die historische Rhetorik dahingehend, als dass er der Affekterregung ein eigenständiges Kapitel in seiner Institutio oratoria widmet und ihr damit erstmals einen festen Platz in der officia oratoris zuweist.

8. FAzit

Die Rhetorikgeschichte erfuhr mit dem Übergang vom Barock zur Aufklärung gravierende Veränderungen: Das alte Rhetoriksystem mit seiner starken Bindung an die klassische ars wurde von einer anthropologisch begründeten Affektrhetorik abgelöst.

Im Zuge dieser Entwicklung wurden ars und natura zu starken Gegensätzen, die sich gemeinsam mit dem neuen Genie-Konzept des 18. Jahrhunderts immer weiter von der Rhetorik im eigentlichen Sinne entfernten: Man begann Rhetorik mit Wirkung gleichzusetzen, wodurch automatisch jede neue Rhetorikdefinition außerhalb der antiken Tradition der Systemrhetorik anzusiedeln ist. Denn: „Dass sich schon die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts etwa auf die Affekttopoi Quintilians oder Horaz‘ berufen (etwa Klopstock oder auch Goethe), darf den Blick darauf nicht verstellen, dass dieser Bezug auf eine Affekt-Rhetorik seinerseits den […] Systemcharakter der antiken Rhetorik entscheidend limitiert – eben um das Moment der ars.“ (Till, 2006)

Autorin

Carina D. Bukenberger

Medienrhetorik & Corporate Publishing

C.Bukenberger@LEONARTO.de

Quellen und Literaturempfehlungen

Goethe, Johann Wolfgang v.: Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808.

Hallbauer, Friedrich Andreas: Einleitung in die nützlichsten Übungen des Lateinischen Stili nebst einer Vorrede von den Mitteln zur wahren Beredsamkeit, 1727.

Kramer, Olaf: Das rhetorische ars-natura-Modell. In ders.: Goethe und die Rhetorik. Berlin/New York, 2010. S. 73-79.

Neumann, Florian: Natura-ars-Dialektik. In: Hist. Wörterbuch der Rhetorik. Band 6. Spalten 139-171.

Peters, Günther: Genie. In: Hist. Wörterbuch der Rhetorik. Band 3. Spalten 737-750.

Stroh, Wilfried: Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen. Die Rhetorik des Dr. Faust und ihre antiken Vorbilder. 2015. 

Till, Dietmar: Affekt contra ars: Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica: A Journal of the History of Rhetoric, Vol. 24 No. 4, Autumn 2006. S.337-369.

Ueding, Gert: Dichter und Redner. In ders.: Schillers Rhetorik: Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen, 1971.

Ueding, Gert: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tübingen, 1992.

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