Allgemeine Rhetorik

Ingenium und Genie

Beredsamkeit als natürliche Anlage

„Genie ist die angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“

Immanuel Kant, KdU (1790)

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Die Begriffe Ingenium und Genie bezeichnen die allgemeine Fähigkeit des Geistes zu schöpferischer Erkenntnis. Ihren Ursprung finden sie in der klassischen Rhetorik von Platon und Pseudo-Longin, die von einem irrationalen und emotionalen Antrieb des Dichters sprechen.

Januar 22, 2019

Written by Carina D. Bukenberger

Rhetorik M.A.
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Aus Gründen einer verbesserten Lesbarkeit verwenden wir in diesem Artikel das generische Maskulinum. Dies beinhaltet keinerlei Wertung und schließt sämtliche Geschlechteridentitäten mit ein.

1. Definition und Wortherkunft: Ingenium und Genie als Grundvoraussetzung der Beredsamkeit?

Genie:

Der neuzeitliche Begriff Genie bezeichnet die allgemeine Fähigkeit des Geistes, schöpferische Erkenntnis zu erlangen. Der Begriff basiert auf den griechischen Bezeichnungen daímon (guter oder böser Geist), euphyía (gute, natürliche Anlage), enthusiasmós (göttliche Begeisterung) und dem lateinischen ingenium. Seinen Ursprung findet der Genie-Begriff in der klassischen Rhetorik von Platon und Pseudo-Longin, die von einem irrationalen und emotionalen Antrieb des Dichters sprechen.

Ingenium:

Das ingenium bezeichnet eine angeborene Begabung und bildet gemeinsam mit der Kunst der Rhetorik an sich, dem Studium, Stil-Übungen und Nachahmungen, die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Ausbildung zum Redner. Bereits seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. gelten die natürliche Anlage (ingenium) und praktische Übung (exertitium) für bedeutsamer als eine theoretisch-technische Unterweisung (ars) in der Kunst der Rhetorik. Dabei schließen sich künstlich angeeignete Fähigkeiten und eine natürliche Begabung nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig: Der orator perfectus unterstreicht sein angeborenes Talent mit rhetorischen Mitteln und Strategien.

Genie und Ingenium in der antiken Rhetorik:

Das Ingenium wird in der klassischen lateinischen Rhetorik als Teil der inventio-Lehre definiert und im Rahmen der naturaars-Dialektik von iudicium und arguitia unterschieden. Das Ingenium wird unter Rückgriff auf die lateinischen Begriffe genius und natura angewandt und steht neben ars, studium, exercitatio und imitatio als unverzichtbare Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Ausbildung zum orator fest. Ars und natura schließen sich hierbei nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig bei der Formung des orator perfectusIm Rahmen von imitatio steht der Genie-Begriff in der Phase der inventio für die Fähigkeit in der Natur, Originelles für die eigene Nachahmung zu finden. Außerhalb des imitatio-Grundsatzes steht der Genie-Begriff für schöpferisches Vermögen, das sich allein in seiner Erfindungskraft begründet.

Genie und Ingenium in der Aufklärung:

Im 18. Jahrhundert wurde von J.A. Schlegel und C.F. Gellert der Begriff „Genie“ als Ersatz für das damals bereits veraltete „Ingenium“ eingeführt. Inzwischen wurde das Ingenium in Begriffe wie Genie, natürliche Begabung und Erfindungskraft aufgenommen. 

2. Einordnung im rhetorischen System: Die Systematisierung der Genieästhetik

Die Produktion der schönen Künste entzieht sich häufig einer klaren Einordnung und Definition: Der Künstler ist den Begriffen der Rhetorik und der Poetik voraus, und trotzdem verlangen auch die Werke eines Genies eine regelgerechte Bestätigung seines Talents in irgendeiner Form. Kant spricht hierbei von einem gewissen je ne sais quoi, das neben einem klaren Verstand das Talent des Genies stützt.

Bewertet werden Werke der schönen Kunst durch den Geschmack, dessen Regeln begrifflich ebenfalls kaum bestimmt werden können, sich aber grob am rhetorischen Prinzip der Angemessenheit orientieren.

Genieästhetik ist Wirkungs- und Produktionsästhetik zugleich: Das Genie will kein schöner, sondern ein erhabener Geist sein, womit es im 18. Jahrhundert die Nachfolge von Helden, Weisen und Heiligen antritt.

Für die inventio gibt es neben der klassischen Topik weder Plan noch Vorschrift. Entsprechend schwierig gestaltet sich eine Einordnung des Terminus <Genie> in diese erste Phase der officia oratoris. Die ästhetische Urteilskraft orientiert sich rhetorisch gesehen am Prinzip der Angemessenheit, welches in Begriffen wie aptum und decorum bereits in der antiken Rhetorik systematisch ausgearbeitet wurde.

Das Genie zielt über delectare durch das Erhabene auch auf movere ab, wodurch ästhetische Idee und dichterische Seelenlage erstmals zu einer Einheit verschmelzen und sich dem Ideal des vir bonus dicendi peritus annähern.

3. Genie und Ingenium in der Aufklärung: Die poetische Genieästhetik des 18. Jahrhunderts

Seit der Rennaissance bewegen sich Mythen und Produktionstheorien rund um den Dichter als Nachahmer der Natur oder als Schöpfer einer neuen Welt. Die Festigung des Geniebegriffs beginnt im 16. Jahrhundert und ereicht im Frankreich, England und Deutschland des 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt:

In Frankreich tritt der Begriff <génie> erstmals 1532 bei Rabelais auf und kann sich mit der Bedeutung „Erfindungskunst, Talent, Gabe und Inspiration“ in den folgenden Jahrhunderten durchsetzen. Batteux betont 1746, dass das Genie durch Gründlichkeit und Geschwindigkeit seiner Beobachtungs- und Auffassungsgabe nicht auf die Kopie klassischer Muster angewiesen ist, sondern die Natur unmittelbar nachahmen kann.

Für England stellte B. Fabian die These auf, dass entscheidende Attribute des künstlerischen Genies aus dem Leitbild des Naturwissenschaftlers entnommen wurden, weshalb „discovery“ und „invention“ zugleich Kategorien der neuen Naturwissenschaft, wie auch der traditionellen Rhetorik sind.

In Deutschland nennt Baumgarten 1720 die Fähigkeit des Dichters, mit seiner Einbildungskraft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu überblicken und zu gestalten, den Ausgangspunkt von Schönheit und Wirkungsmacht. Für Gottsched liegt in seiner „Critischen Dichtkunst“ (1730) der Sinn poetischer Produktion hingegen weiterhin rein in der Nachahmung der Wirklichkeit, wodurch Regelkenntnis, Schulung des Geschmacks und vernunftgeleitete Tugend für das Genie unverzichtbar sind. Nach Bodmer und Breitinger hingegen liegen die genialen Wirkungsabsichten allerdings allein darin, die Wahrheit der wirklichen Welt ins Wunderbare einer möglichen Welt zu erhöhen. In einem Brief an Herder vom Juli 1772 definiert Goethe erstmals den Grundgedanken der neuen Genieästhetik: Das poetische Genie kann über seine eigenen Fähigkeiten als ungebärdiges Instrument mit aller virtus herrschen, ohne dabei noch auf die Regeln sehen zu müssen, denen auch die geniale Schöpfung frei folgt. Nach Stolberg (1777) bleibt die Natur die unangefochten höchste Instanz des Genies. Jedoch soll er Künstler nicht deren Oberflächenstruktur nachahmen, sondern das schöpferische Prinzip in ihr fühlen.

Seine wohl prägnanteste Fassung erreicht der Geniebegriff vermutlich in Kants „Kritik der Urteilskraft“ (1790):

«Genie ist die musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen.»

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790)

In Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795) findet die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts schließlich ihren vorläufigen Abschluss: Schiller greift die ursprünglich rhetorische natura-ars-Dialektik auf, rekonstruiert Kants Geniebegriff und unterscheidet auf diese Weise schließlich das naive Genie vom sentimentalischen Dichtergeist.

4. Quellen und Literaturempfehlungen

Peters, Günther: Genie. In: Hist. Wörterbuch der Rhetorik. Band 3. Spalten 737-750.

Neumann, Florian: Natura-ars-Dialektik. In: Hist. Wörterbuch der Rhetorik. Band 6. Spalten 139-171.

Ueding, Gert: Dichter und Redner. In ders.: Schillers Rhetorik: Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen, 1971.

Till, Dietmar: Affekt contra ars: Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica: A Journal of the History of Rhetoric, Vol. 24 No. 4, Autumn 2006. S.337-369.

Kramer, Olaf: Das rhetorische ars-natura-Modell. In ders.: Goethe und die Rhetorik. Berlin/New York, 2010. S. 73-79.

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. 1970.

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